Von Vertumnus lernen
“Man glaubt, man sei derselbe.
Es gibt keinen Selben.”
Paul Valéry, Cahiers
Vesta, die Verweilende und Vertumnus, der Wanderer verkörpern als römische Gottheiten die traditionellen Denk- und Ausdrucksschemata des abendländischen und des fernöstlichen Denkens, das Sein und den Weg, Wohnen und Wandern, Wesen und Abwesen.
Vesta, Göttin des Herdfeuers und der Häuslichkeit: Der Begriff “Wesen”, der Identität, Dauer und Innerlichkeit, Wohnen, Verweilen und Besitzen in sich versammelt, beherrscht die abendländische Metaphysik. Das Schöne ist für Platon das Identische, das Unveränderliche, das Dauernde. Das Wesen verweist auf Haus und Haushalt, auf Eigentum und Besitz, auf das Dauernde und Gefestigte. Das Wesen ist Bleibe, Substanz, Stand und Standfestigkeit. Als Schutzgöttin der Fremden ist Vesta Vertumnus zugewandt.
Vertumnus, der römische Gott des Wandels und der Veränderung, sein Name ist verbunden mit dem Verb vertere, was bedeutet wenden drehen. Vertumnus ist Wanderer, er verfolgt keine Absicht er geht nirgends hin und wohnt nirgends. Er verschmilzt ganz mit dem Weg, der seinerseits nirgendswohin führt. Der Wanderer hat keinen Stand oder Stand-Punkt, ist nicht der Selbe und bleibt sich nicht gleich.
Joseph Brodsky lässt Vertumnus sagen: „Sei nicht erstaunt: meine Spezialität sind Metamorphosen. Wen immer ich anschaue, sofort wird er – ich." Und fügt bei:
"Von Vertumnus können wir die Kunst lernen, mit der Landschaft zu verschmelzen, den Möbeln oder Rolläden...”.
Von Vertumnus lernen wir die Kunst des Aramäisch Bildermachens, das Schritthalten mit dem Wandern der Dinge, die ambulante Praxis (lat. ambulare „wandern“, „umherziehen“), die nomadische Wissenschaft. „Man stellt nicht dar und stellt sich nicht etwas vor, sondern man erzeugt und durchläuft etwas. Wissenschaft der Möglichkeiten und Ereignisse...Man ist nicht in der Welt, man wird mit der Welt, man wird in ihrer Betrachtung“ (Deleuze & Guattari).